Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)
Der komponierende Besucher
Alle reden über meinen kurzen Besuch in Potsdam Mitte Mai 1747. Sogar einen Film haben sie darüber gedreht. Ich denke, die Leute übertreiben. Gewiss, ich war der „große Bach“, seit 1723 Kantor an der Leipziger Thomasschule. Ich darf vorausschicken, dass mein zweitältester Sohn, Philipp Emanuel, seit 1738 im Dienst des Königs stand. Anfangs war das noch in Rheinsberg, wo er als Cembalist in die Kapelle des Kronprinzen berufen wurde. In der Hofkapelle hatte er den Posten des Kammercembalisten inne. Auch in Komposition übte er sich. Seinem König widmete er die sechs „Preußischen Sonaten“ für Klavier. Ich konnte also stolz auf meinen Sohn sein, zumal er geheiratet und mich zum Großvater gemacht hatte. Wenn Sie wissen wollen, wie Philipp Emanuel aussieht: Er sitzt auf Adolf Menzels berühmten Gemälde „Das Flötenkonzert in Sanssouci“ am Cembalo.
Zurück zu jenem Sonntag im Mai 1747. Mit einer schnellen Kutsche war die Strecke zwischen Leipzig und Potsdam an einem Tag zu schaffen. Ich machte aber bereits in Halle Station, wo mein ältester Sohn Friedemann Organist war. So kam ich erst am späteren Abend in Potsdam an. Dass mich der König sogleich empfangen würde, hatte ich nicht erwartet. Er hatte ein paar Tage zuvor sein Sommerschloss auf dem Weinberg „eröffnet“, war aber gleich danach wieder in das Potsdamer Stadtschloss zurückgekehrt. Das war eine einzige Baustelle. Ich verstehe nicht, wie der König unter solchen Bedingungen leben konnte. Nun gut, er war 35 Jahre alt, ich 62.
Ich hatte kaum Zeit, mich von der Reise ein wenig zu erholen, da wurde ich auch schon ins Schloss geladen. Es war eine von diesen freundlichen Einladungen, denen man sich unmöglich widersetzen konnte. Man hätte mich zwischen meiner Eskorte auch für einen Gefangenen halten können. Die königliche Gesellschaft vergnügte sich mit Musik. Als ich hinzutrat, rief der König: „Meine Herrn, der alte Bach ist gekommen!“ und brach das Konzert ab. Im Schloss standen überall verstreut Cembali und Hammerklaviere, die zum Teil aus anderen Schlössern stammten, zum Teil auch neu gekauft waren. Zunächst sollte ich deren Qualität prüfen. Das war schnell getan, denn ich war mir sicher, dass mein Sohn diese Prüfung längst vorgenommen hatte.
Dann wurde musiziert. Der König und ich nahmen an jeweils einem Cembalo Platz und er bat mich, ihm meine Kunst des Improvisierens zu beweisen. Der König spielte ein Thema vor und ich führte es aus. Immer neue Themen wurden angespielt und die Anforderungen stiegen. Problematisch wurde es erst, als mich der König aufforderte, auf ein Thema eine Fuge zu improvisieren. Die Art des Themas war dafür kaum geeignet. Dennoch gelang es mir, eine dreistimmige Fuge anzuspielen. Die Anwesenden waren entzückt. Der König aber, der mich offenbar an die Grenzen meiner Kunst bringen wollte, verlangte daraufhin eine sechsstimmige Fuge. Da blieb mir nur, ihm zu versprechen, sie schriftlich nachzuliefern. Damit endete der erste Tag in Potsdam.
Am nächsten Tag ließ ich mich dann noch in der Heiliggeistkirche in Potsdam als Orgelspieler hören und reiste auch bald wieder nach Hause. In Leipzig angekommen, arbeitete ich das Thema aus, es entstanden die beiden Ricercari zu drei und sechs Stimmen, dann fügte ich noch diesen und jenen Kanon über dasselbe Thema hinzu und schließlich, als Verbeugung vor der Flötenkunst des Königs, eine Triosonate für Flöte, Violine und Generalbaß. Ich ließ die Noten in Kupfer stechen und sandte sie dem König als „Das musikalische Opfer“. Ich stellte es Friedrich frei, mich als Opfer seiner Launen zu sehen oder die Komposition als meine Opfergabe am Altar seiner Größe. Ein Missverständnis möchte ich am Schluss ausräumen: Die „Brandenburgischen Konzerte“ haben mit Friedrich oder mit Sanssouci nicht das Geringste zu tun. Sie entstanden 1721 – da war Friedrich neun Jahre alt. Gewidmet habe ich sie Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt, der mir bei einem Berlin-Besuch sehr zugetan war.